Was ist Synästhesie?

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Informationen über Synästhesie

Synästhesie ist eine relativ seltene Variation des Erlebens von Sinneswahrnehmungen, bei welcher Sinneseindrücke Hirnareale aktivieren, die normalerweise nicht von diesen Sinneseindrücken aktiviert werden. Dieser Vorgang resultiert für SynästhetikerInnen in einem bewussten Erleben von Reizeigenschaften (synästhetische Erlebnisse), welche nicht in der physikalischen Welt repräsentiert sind.

Synästhesie ist ein vielfältiges und heterogenes Phänomen: Verschiedenen Formen werden anhand der Art des Sinneseindruckes (Auslöser) und der Art des Sinneserlebnisses (synästhetisches Erleben) klassifiziert. Bis heute sind mehr als 70 verschiedene Formen von Synästhesie bekannt.

Ein wesentliches Definitionskriterium ist, dass die synästhetischen Erlebnisse über die Zeit konstant sind, das heisst, ein bestimmter Reiz löst jeweils ein spezifisches Erlebnis aus. Diese Konstanz kann mit Konsistenztests gemessen werden, bei denen die Stabilität der synästhetischen Erlebnisse über die Zeit erfasst wird. Die Forschung deutet darauf hin, dass die synästhetischen Assoziationen über viele Jahre bestehen, dass sie aber über die Zeit verblassen können.

Bisherige Forschung hat verschiedene Zusammenhänge zwischen dem Erleben von Synästhesie, den zugrundeliegenden neuronalen Korrelaten und genetischen Dispositionen feststellen können. Ausserdem wurden Zusammenhänge mit kognitiven Eigenschaften, Persönlichkeitsmerkmalen und der Prävalenz psychischer Störungen gefunden.

Wie bereits erwähnt, gibt es zahlreiche Variationen des synästhetischen Erlebens und daher lassen sich unterschiedliche Formen von Synästhesie definieren. Diese werden typischerweise nach der jeweiligen Zusammensetzung aus Auslöser und der resultierenden zusätzlichen Sinnesempfindung unterschieden und benannt.

Bis jetzt liegen nur ungenaue Schätzungen vor, wie häufig unterschiedliche Formen von Synästhesie in der Bevölkerung vorkommen. Eines unserer Ziele ist es, eine präzisere Angabe über die Häufigkeit verschiedener Formen der Synästhesie im deutschsprachigen Raum machen zu können.

In diesem Abschnitt werden die drei am häufigsten beschriebenen und am besten erforschten Formen der Synästhesie kurz präsentiert:

Die Graphem-Farb-Synästhesie ist die am besten erforschte Form von Synästhesie. Bei dieser Form wird ein Farberlebnis durch die Wahrnehmung von Buchstaben oder Ziffern ausgelöst (auditiv oder visuell, oder auch durch das Denken daran). Neben der Farbe kann das synästhetische Erleben auch ein Muster oder eine Textur beinhalten.

Die Farbassoziationen sind auf individueller Ebene idiosynkratisch (d.h. verschiedene SynästhetikerInnen haben unterschiedliche Farben für dieselben Buchstaben), aber es gibt insgesamt eine Häufung bestimmter Graphem-Farb-Kombinationen. Diese überlappen interessanterweise stark mit denjenigen Verknüpfungen, die auch bei Nicht-SynästhetikerInnen gefunden werden, wenn ihnen die Aufgabe gestellt wird, Graphemen Farben zuzuordnen.

Nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung ist von Synästhesie betroffen, nämlich etwa 4%.

Die Verknüpfung zwischen dem Auslöser und dem synästhetischen Erlebnis tritt im Verlaufe der Kindheit auf und bleibt in der Regel während der gesamten Lebensspanne konstant – auch wenn Anzahl und Intensität synästhetischer Erlebnisse im Laufe des Erwachsenenlebens abnehmen können.

Befunde zur Entwicklung einer Graphem-Farb-Synästhesie deuten darauf hin, dass erste Anzeichen bereits bei sechsjährigen Kindern festgestellt werden können und dass die Anzahl konsistenter Assoziationen mit zunehmendem Schrifterwerb rasch zunehmen. Allerdings können anfänglich vorhandene synästhetische Erlebnisse im Verlaufe der Adoleszenz auch wieder verschwinden. Dies könnte darauf hinweisen, dass es kritische oder sensible Phasen während der Entwicklung gibt, in denen die Auswirkung von Erfahrungen auf die Gehirnfunktion besonders stark ausfällt. Dazu gehört möglicherweise das Pruning während der frühen Entwicklung. Beim Pruning werden unbenutzte neuronale Verbindungen im Gehirn abgebaut mit dem Ziel, Funktionen zu spezialisieren, indem im Gegenzug wichtige Verbindungen gestärkt werden. Weitere Faktoren sind möglicherweise der Erwerb kultureller Artefakte zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr (Sprache, Zahlen, Buchstaben, musikalische Notation usw.) sowie die Aktivierung und Reorganisation neuronaler Schaltkreise während der Adoleszenz.

Um die Entstehung einer Synästhesie zu erklären, gibt es verschiedene theoretische Ansätze, welche vor allem auch auf Erkenntnissen aus bildgebenden Verfahren (z.B. funktionelle Magnetresonanztomographie) bei der Graphem-Farb-Synästhesie beruhen.

Hier werden die zwei prominentesten Theorien kurz beschrieben:

Die Cross-Activation-Theorie führt synästhetische Erlebnisse auf eine gegenseitige Aktivierung von bestimmten Hirnarealen zurück. Bei Betroffenen der Graphem-Farb-Synästhesie konnte eine stärker ausgeprägte Verknüpfung zwischen den Bereichen im visuellen Hirnareal festgestellt werden, welche für die Verarbeitung von Worten (VWFA) und Farben (V4) verantwortlich sind.

Diese Theorie basiert grundsätzlich auf der Annahme, dass durch genetische Einflüsse bei SynästhetikerInnen gewisse neuronale Verbindungen im Gehirn aufrechterhalten werden, die bei Nicht-SynästhetikerInnen während der Entwicklung abgebaut werden.

Ähnliche Hinweise einer verstärkten Verknüpfung konnten auch für die Ton-Farb-Synästhesie gefunden werden. Allerdings konnte die Theorie einer stärkeren Vernetzung von Hirnarealen, die in der Verarbeitung vom Auslöser und dem synästhetischen Erlebnis involviert sind, für andere Formen der Synästhesie bisher erst teilweise bestätigt werden.